Pressemitteilung 22-I

Angeklagte vor Prozessbeginn aus der U-Haft entlassen: Ein Alarmsignal für die Personalnot der Justiz!

In Strafprozessen gilt das Gebot der Beschleunigung; sie haben Vorrang vor den anderen Aufgaben der Justiz. Befinden sich Angeklagte in Untersuchungshaft, gelten darüber hinaus strenge gesetzliche Fristen. Dann muss die Verhandlung grundsätzlich spätestens 6 Monate nach der Inhaftierung beginnen. Ist das nicht möglich, müssen Inhaftierte entlassen werden, auch wenn der Tatvorwurf noch so schwer wiegt.

Mit aller Kraft versuchen Gerichte und Staatsanwaltschaften daher, derartige Fristüberschreitungen zu vermeiden. Denn die im Einzelfall angeordnete Untersuchungshaft soll ja gerade den Strafprozess absichern, Flucht- und Verdunkelungsgefahr ausschließen und die Bevölkerung vor besonders gefährlichen Tätern schützen. Gelingt dies dagegen nicht mehr, droht ein Versagen der Strafverfolgung und ein zwangsläufiger allgemeiner Vertrauensverlust in Justiz und Rechtsstaat: Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass Straftaten zeitnah und effektiv sanktioniert werden.

In Schleswig-Holstein ist es – wie in anderen Bundesländern auch – in den letzten Jahren zu sogenannten irregulären Haftentlassungen gekommen, weil die zuständigen Landgerichte nicht mehr rechtzeitig mit der Verhandlung einzelner Haftsachen beginnen konnten. Diese für einen Rechtsstaat untragbare Entwicklung kommt nicht ganz überraschend.

„Die aktuelle Situation macht mich betroffen“, erklärte heute die Vorsitzende des Schleswig-Holsteinischen Richterverbandes, Dr. Christine Schmehl, vor der Presse in Kiel. „Seit Jahren weisen wir darauf hin, dass der Justiz in erheblichem Umfang Personal fehlt. Allein in den Geschäftsstellen der Gerichte und Staatsanwaltschaften liegt sogar das von der Politik anerkannte Fehl immer noch bei weit über 100 Kräften. Und der Personalbestand an Richterinnen und Richtern entspricht nicht einmal dem veralteten Standard aus dem Jahr 2014, auf den sich der Haushaltsgesetzgeber beruft. Seither ist der Arbeitsaufwand pro Fall aber noch einmal ganz erheblich gestiegen, in den großen Strafverfahren um rund 50%. Es ist mit Händen zu greifen, dass die gesamte Personalberechnung mit ihrem veralteten, realitätsfernen Rechenwerk hinten und vorne nicht aufgeht.

Zwangsläufig machen die Auswirkungen der Mangellage auch nicht vor den Strafgerichten Halt, die für die Schwerkriminalität zuständig sind. Wie überall sind die Kolleginnen und Kollegen auch hier längst an ihre Grenzen gestoßen. Da nützt es auch nichts, auf die Organisationsverantwortung der Gerichte für ihren Geschäftsbetrieb hinzuweisen und nach einer internen Umverteilung von Personal zu rufen. Das kann den Mangel weder beseitigen noch kaschieren: Wenn die Decke zu kurz ist, fehlt immer ein Stück – egal wie man sie zieht und wendet.

Wir rufen die Landesregierung und das Parlament zum Handeln auf. Die Lage der Justiz wird wie überall durch den Fachkräftemangel ohnehin noch prekärer. Es darf aber nicht sein, dass die Kernaufgaben des Rechtsstaats wegen Personalmangels auf der Strecke bleiben. Die Bürgerinnen und Bürger, die hierüber entsetzt sind, haben unser volles Verständnis.“